Freistellermotiv aus dem aktuellen Jahresbericht 2022/23

Raum für und durch Sprachen

Innovative, zum Teil auch mehrsprachige Aufgabenformate sind gleichermaßen die Spezialität des Bundeswettbewerbs Fremdsprachen wie seiner Beiratsvorsitzenden Sabine Doff. Hier schreibt die Fremdsprachendidaktikerin über eine Grundsatzfrage: Sollten wir trotz künstlicher Intelligenz und veralteter Lehrmaterialien überhaupt noch Fremdsprachen lernen, intensiv, mühevoll, auf Wettbewerbsniveau? Und wenn ja: Was haben die Schülerinnen und Schüler davon?

Schulischem Fremdsprachenunterricht mutet, gerade angesichts der rasanten Entwicklung der Welt um ihn herum, unweigerlich etwas Antiquiertes an. Auch Überzeugungstäterinnen und Überzeugungstätern fällt es vor diesem Hintergrund zunehmend schwer, glaubhaft zu machen, dass es viele Vorteile hat, beispielsweise alle – ja, wirklich alle (!) – Typen von if-clauses zu kennen oder es sich wirklich – ja, wirklich (!) – lohnt, dem Phänomen des subjonctif auf den Grund zu gehen. Fragen, die dabei in dieser oder ähnlicher Form auftauchen, sind unter anderem:

  • Frage 1: Wie lange wird es dauern, bis ich genauso gut (und schnell) einen Text ins Französische übersetzen kann wie DeepL?
  • Frage 2: ChatGPT produziert, einen entsprechenden Frageimpuls vorausgesetzt, Antworten scheinbar mühelos in der gewünschten Sprache – warum soll ich es dann noch mühevoll üben?
  • Frage 3: Ist es zeitgemäß, Fremdsprachenunterricht mit Lehrwerken zu gestalten, die offenbar noch die gleichen Übungen (Stichwort: Fill in the gap) enthalten wie seit Jahrzehnten?

Sich diesen Fragen zu stellen ist für eine Fremdsprachendidaktikerin unausweichlich, beispielsweise anlässlich der Berufung in den Beirat des Bundeswettbewerbs Fremdsprachen. Das sind meine ehrlichen Antworten:

  • Antwort 1: Sehr lange. Auf jeden Fall länger als drei Jahre Unterricht in einer zweiten mit durchschnittlichem Arbeitsaufwand betriebenen Schulfremdsprache.
  • Antwort 2: Um durch künstliche Intelligenz produzierte Texte beurteilen und gegebenenfalls angemessen modifizieren zu können.
  • Antwort 3: Nein. Aber Schule ist ein bewahrendes System, das der es umgebenden Welt hinterherhinkt, auch in Bezug auf Lehrwerke. Das liegt in der Natur der Sache.

Noch nicht beantwortet – und wohl anders als vor 200 Jahren pragmatisch auch nicht mehr beantwortbar – ist damit die zugrunde liegende Ausgangsfrage: Sollte man heute überhaupt noch Sprachen lernen? Hier lautet meine Antwort ganz klar: Ja! Daraufhin könnten Sie sich natürlich fragen: Warum? Und: Warum besonders gut und intensiv, wie zum Beispiel im Bundeswettbewerb Fremdsprachen? Aus meiner Sicht gibt es dafür zwei Gründe.

Drei junge Männer unterschiedlicher Hautfarbe sitzen gut gelaunt nebeneinander.
Wer als Lehrkraft Mehrsprachigkeit didaktisch sinnvoll einsetzt, leistet einen wichtigen Beitrag zur Wertschätzung einer diversen Gesellschaft.

Erstens: Sprachen eröffnen Räume. Je mehr Sprache(n), desto mehr Räume.

Sprachen ermöglichen Begegnungen mit Menschen und die Erschließung von Phänomenen, die uns sonst nicht oder nur erschwert beziehungsweise vermittelt möglich (gewesen) wären.

Beispiel 1: Menschen aus Kulturen, die sehr gut räumlich orientiert sind, verwenden für Richtungsbeschreibungen die Himmelsrichtungen Ost, West, Nord und Süd (statt wie wir links und rechts, oben und unten). Mitglieder solcher Kulturen haben einen jahrhundertelang kultivierten, deutlich besser ausgeprägten räumlichen Orientierungssinn als ein mitteleuropäischer Durchschnittsmensch, sozusagen einen inneren Kompass. Diese besondere Qualität offenbart sich in ihrer Sprachverwendung und wird dadurch geprägt: Ihre Sprache verändert ihre elementare Verfasstheit.

Beispiel 2: Seit ich Vorträge in anglo-amerikanischen Kontexten (insbesondere, aber nicht nur von Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern) verstehe, weiß ich, dass wissenschaftlicher Anspruch und humorvolle Unterhaltung sich nicht ausschließen müssen. Das hat meine eigene Vortragspraxis sehr bereichert. Generationen von Studierenden profitieren bis heute unwissentlich davon.

Zweitens: Räume (er)schaffen Sprache. Je mehr Räume, desto mehr Sprache(n).

Die sich verändernden Räume, in denen wir leben, (er)schaffen Sprache.

Beispiel 3: Jährlich kürt eine Jury unter Leitung des Langenscheidt-Verlags das Jugendwort des Jahres. In der Regel sind das Wörter, die (noch) nicht im Duden stehen. Das heißt, sie beschreiben Phänomene, die Menschen meiner Generation in der Regel erstmal in Erfahrung bringen müssen. Anhand der Favoriten für das Jahr 2023 habe ich unter anderem gelernt, dass es sich bei „Rizz“ um die Fähigkeiteiner Person handelt, zu flirten und dabei verbal charmant zu sein. Ein Wort für diese Qualität hatte zuvor in meinem Wortschatz gefehlt.

Beispiel 4: Eine Lehrkraft, die in einem multilingualen Klassenraum Mehrsprachigkeit didaktisch sinnvoll zur Sprache bringt, leistet einen wichtigen Beitrag zur Wertschätzung einer diversen Gesellschaft. Sie bringt auf diesem Weg oft verborgene sprachliche und weitere Potenziale der Lernenden zum Vorschein.

Die Räume, die uns umgeben und sich verändern, prägen also unsere Sprache(n).

Was bedeutet das und was folgt daraus?

Die vorangehenden Beispiele zeigen mindestens zweierlei: Unsere Sprache und unser Raum bedingen sich gegenseitig. Und: Das Verhältnis von Raum und Sprache ist ein wechselseitig dynamisches.

Sprachen bilden also einerseits die uns umgebende Wirklichkeit ab. Über Sprache gestalten wir umgekehrt auch die Räume, die uns umgeben. Das bedeutet: Wer mehr Sprachen kennt und/oder Sprache(n) besser kennt, hat potenziell mehr Raum zur Verfügung, kann sich diese(n) erschließen und aktiv (mit-)gestalten. Dieses dynamische Wechselverhältnis ist ein ureigen menschliches, denn andere Lebewesen haben keine Sprache im ursprünglichen Sinn. Daraus entsteht auch eine spezifische Verantwortung, die allen sprachlich begabten Individuen – also jedem und jeder Einzelnen von uns – obliegt, die zum verantwortungsvollen Umgang mit Sprache. Diese Verantwortung können weder KI noch Maschinen an unserer statt übernehmen.


Klingt überhöht? Wer dies vermutet, dem sei, um zwei Extrembeispiele zu nennen, die Lektüre von Victor Klemperers „Lingua Tertii Imperii“ oder der Reden des Amtsvorgängers des amtierenden Präsidenten der USA ans Herz gelegt. Letzteren wünscht man mehr subjonctif und if-clauses. Diese und zahlreiche weitere Beispiele zeigen: Totalitäre Tendenzen kündigen sich über Sprachverwendung an und manifestieren sich darüber sehr früh. Wer die Räume, die wir uns als Gemeinschaft und Individuen über Jahrhunderte in einer freien und demokratischen Gesellschaft erschlossen haben, erhalten und erweitern möchte, schafft über Sprache(n) dafür eine unabdingbare Voraussetzung. Das genügt mir für ein Engagement für das Sprachenlernen, das ich jetzt auch im Bundeswettbewerb Fremdsprachen einbringen darf. Für diese Chance bin ich dankbar und freue mich darauf!

Prof. Dr. Sabine Doff

Sabine Doff ist ausgebildete Gymnasiallehrerin und lehrt seit 2009 als Professorin für Fremdsprachendidaktik Englisch an der Universität Bremen, wo sie auch stellvertretende Direktorin am Zentrum für Lehrerinnen-/Lehrerbildung und Bildungsforschung ist. Seit Januar 2023 ist sie außerdem Beiratsvorsitzende des Bundeswettbewerbs Fremdsprachen.

Sabine Doff ist ausgebildete Gymnasiallehrerin und lehrt seit 2009 als Professorin für Fremdsprachendidaktik Englisch an der Universität Bremen, wo sie auch stellvertretende Direktorin am Zentrum für Lehrerinnen-/Lehrerbildung und Bildungsforschung ist. Seit Januar 2023 ist sie außerdem Beiratsvorsitzende des Bundeswettbewerbs Fremdsprachen.

Sabine Doff & Volker Meyer-Guckel: Lehrkräftebildung, Chancengerechtigkeit und die Zukunftswerkstatt

Der Bundeswettbewerb Fremdsprachen im Unterricht

  • Nehmen Sie mit einer Klasse an der Kategorie TEAM Schule teil, können Sie Ihr Team oder Ihre Teams im Unterricht an den Beiträgen arbeiten lassen. So können Sie die ganze Klasse an der Suche nach geeigneten Themen beteiligen.
  • Die Projektarbeit trägt einerseits zur Binnendifferenzierung bei und ist andererseits ein gutes Instrument, um auch den nicht so leistungsstarken Schülerinnen und Schülern das Mitmachen in Kleingruppen zu ermöglichen.
  • Die Teams arbeiten im Wesentlichen eigenständig, wobei Sie natürlich bei Fragen zur Verfügung stehen und bei Schwierigkeiten im Teamwork vermittelnd unterstützen.
  • Alternativ können Sie die Kategorie SOLO in der Klasse vorstellen und Ihre Schülerinnen und Schüler gezielt zur Online-Anmeldung  ermuntern.
  • Die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler Ihrer Klasse können Sie zu einer AG zusammenfassen, um sich gemeinsam auf die Wettbewerbsteilnahme vorzubereiten, etwa mit den Themen für den Wettbewerbstag.

Der Bundeswettbewerb Fremdsprachen im Video. 

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