Raum für Resonanz
Gehen Sie gerne zur Schule? Das ist die Gretchenfrage für Hartmut Rosa. Denn ohne einen Resonanzbeziehungen kann es auch keine Talententfaltung geben, so die These des Soziologen, und damit keine gute Schulzeit. In seinem Vortrag, gehalten im Mai bei der Fachtagung Perspektive Begabung von Bildung & Begabung, stellte Rosa Schlüsselbegriffe seiner Resonanztheorie vor und erklärte, was es braucht, damit Schule zum Ermöglichungsraum werden kann.
Im Sport spielen Talentscouts eine große Rolle. Ich glaube, dass diese Idee ein wenig irreführend ist. Jedenfalls, wenn es um Schule oder überhaupt um Bildung geht. Talent ist nichts, was einfach geweckt werden muss – und dann ist es da. Vielmehr entfaltet sich Talent in einer dynamischen Beziehung, und zwar in einer Beziehung zwischen dem Jugendlichen und der Schule: Ein Subjekt tritt mit einem bestimmten Weltausschnitt in eine bewegte Beziehung. Dieser Begriff der Bewegung ist wichtig, denn wenn jemand ein Talent „entfaltet“ oder „entdeckt“, dann meinen wir doch: Da gibt es etwas, das mich angeht! Ob Fußball, Musik, oder Programmieren: Etwas berührt mich, bewegt mich, geht mich etwas an.
Es gibt aber auch die entgegenkommenden Bewegungen. Ein bestimmter Weltausschnitt bewegt nicht nur mich, sondern ich merke: Ich kann auch etwas bewegen. So beginnt Talententfaltung. Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher beim Fußballspielen zwei Tore erzielt und merkt: Ich habe einen Unterschied gemacht. Oder auch in der Musik, wenn man feststellt: Meine Stimme trägt dazu bei, dass ein Lied gut klingt.
Bewegung versus Entfremdung
Ich bin seit vielen Jahren leidenschaftlicher Akademieleiter für die Deutsche SchülerAkademie. Dabei komme ich in Kontakt mit Jugendlichen, die sehr viele unterschiedliche Interessen und Talente mitbringen. Ich habe jedoch auch für das Studienhaus in Sankt Blasien Nachhilfekurse organisiert – für Schülerinnen und Schüler, die nach landläufiger Meinung als eher wenig talentiert galten. Dennoch ergaben wissenschaftliche Begleitstudien, dass die wenigen Wochen, die die Jugendlichen im Nachhilfekurs verbrachten, einen deutlichen Unterschied machten. Manche Teilnehmende verbesserten sich sogar um eine ganze Note. Warum ist das so? Denn bei allem Respekt vor der eigenen Arbeit: Wir konnten natürlich in zwei Wochen nicht den verpassten Schulstoff von zwei oder drei Jahren nachholen. Aber wir konnten diese wechselseitige Bewegung in Gang setzen, die ich gerade beschrieben habe. Die Schülerinnen und Schüler hatten bis dahin das genaue Gegenteil dessen erlebt, was ein Resonanzraum bieten soll – nämlich eine Entfremdungszone. Eine Entfremdungszone ist die Abwesenheit dieser wechselseitigen Bewegung. Es ist das Gefühl: „Das kann ich nicht, das mag ich nicht, das will ich nicht.“ In diesen Nachhilfekursen haben wir es geschafft, diesen jungen Menschen das Gefühl zu geben, das etwas durchaus spannend sein kann, das Lernen Spaß machen kann – wenn man nur die geeigneten Formen findet.
Für das Verständnis, was einen Resonanzraum definiert, sind Selbstwirksamkeitserwartung und Selbstwirksamkeitserfahrung die Schlüsselbegriffe. Ich kann ein Talent nur entfalten, wenn ich mir zutraue, etwas in Bewegung zu setzen, etwas zu erreichen, etwas zu können. Die Selbstwirksamkeitserwartung wiederum beruht auch auf Selbstwirksamkeitserfahrung: Ich muss die Erfahrung gemacht haben, etwas zu können. Damit haben wir jetzt die Grundbedingungen für einen Resonanzraum – und für eine Entfremdungszone.
„Fack ju Göhte“ oder: Wie eine Entfremdungsbeziehung zur Resonanzbeziehung wird
Der „Resonanzraum Schule“ sollte also ein Raum sein, in dem Jugendliche diesen Bewegungsprozess mit allen Weltausschnitten, mit denen sie da in Berührung kommen, in Gang setzen können. Wo Jugendliche die Erfahrung machen, dass Schule sie berührt, dass sie von den Lehrerinnen und Lehrern gesehen oder sogar gemocht werden – da wird die Schule zu einem Ort, an dem Kinder und Jugendliche Selbstwirksamkeitserfahrungen machen. Auf der entgegengesetzten Seite steht die Entfremdungszone: Wenn ich das Gefühl habe, dass meine Klassenkameraden mich nicht mögen, dass ich gemobbt und auch von den Lehrern nicht wahrgenommen werde, dann verschließe ich mich – das Gegenteil von Resonanz.
Das Gleiche gilt auch für die Lehrkräfte selbst. Fragen Sie sich doch einmal: Ist Schule für mich ein Resonanzraum? Gehe ich dort gerne hin, freue ich mich auf eine bestimmte Klasse, auf die Kolleginnen und Kollegen? Dann mache ich vermutlich auch die Erfahrung, dass man seine Schülerinnen und Schüler erreicht, dass man von ihnen gehört und gesehen werden möchte. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Wie blicken mich die Schülerinnen und Schüler an? Ist da dieses offene In-Bewegung-Setzen: Ich will dich sehen, ich will von dir erreicht werden. Und ich traue mir zu, dass ich dich erreichen kann, dass wir sozusagen den Resonanzraum in Schwingung versetzen. Auch in der Stimme eines Menschen kann man bereits hören, ob er oder sie sich etwas zutraut. Um sich etwas zuzutrauen, braucht man Selbstwirksamkeitserwartung.
„Fack ju Göhte“ ist einer der meistgesehenen deutschen Filme. Darüber hinaus demonstriert er aber auch sehr schön, wie eine Entfremdungsbeziehung in der Resonanzbeziehung übersetzt wird. Zu Beginn hasst die Problemklasse den Lehrer Müller. Und der Lehrer, der ja eigentlich gar kein richtiger Lehrer ist, hasst die Schüler. Und beide Seiten hassen Goethe, oder können damit gar nichts anfangen – Indifferenz ist auch eine Form der Abwesenheit von Resonanz. Doch plötzlich fängt Herr Müller an, sich für die Schülerinnen und Schüler zu interessieren. Er sieht Menschen, die ihn etwas angehen. Und umgekehrt merken die Jugendlichen: Dieser Lehrer interessiert sich ja wirklich für uns, er spricht zu uns. Nicht im Sinne von: Ich versuche, euch etwas beizubringen, aber ihr versteht es sowieso nicht. Sondern: Zusammen machen die Klasse und der Lehrer aus Goethe etwas anderes, als eigentlich gedacht war. Das heißt: Talententfaltung und Schule als Resonanzraum brauchen auch eine Offenheit in der Beziehung.
Voraussetzungen für Resonanzgeschehen
Affizierung („Das geht mich etwas an“) und Selbstwirksamkeit („Ich kann etwas bewegen“) sind beides zwei zentrale konstituierende Momente einer Resonanzbeziehung. Das Ergebnis einer solchen Beziehung ist Transformation: Im Prozess verändere ich mich. Und so denken wir auch Talententfaltung: Wir wollen einen Raum bieten, in dem diese Bewegung in Gang kommt. Junge Leute entdecken einen Weltausschnitt, der zu ihnen spricht, der sie etwas angeht, der etwas mit ihnen macht – und sie machen etwas mit diesem Raum. Sie programmieren, gründen vielleicht ein Start-Up, spielen hervorragend Geige, Klavier, Gitarre oder Fußball – die Beispiele sind unendlich. Talententfaltung bedeutet, dass dieser Prozess in Gang kommt – und dabei verändert sich auch das Objekt.
Ein viertes Element schließlich ist Unverfügbarkeit. Sie können in der Schule im Unterrichtsgeschehen nicht bestimmen oder herbeiführen, dass morgen in der dritten Stunde ein Resonanzfenster aufgeht. Man kann nur die Bedingungen dafür schaffen, dass es passieren kann. Wir wissen, dass neben Menschen, die in der Pflege arbeiten, Lehrkräfte die höchste Burnout-Quote aufweisen. Das erklärt sich dadurch, dass jeder und jede, der Lehrer oder Schulleiterin wird, diesen Sinn für Resonanzbeziehungen hat – aber häufig an der Realität scheitert. Menschen, die kurz vor dem Burnout stehen, sagen häufig: Es kommt einfach nichts zurück, die Bewegung fehlt. Ich bete, ich brülle, ich flehe, ich arbeite – aber der Prozess kommt nicht in Gang.
Damit ein Resonanzgeschehen in Gang kommen kann, braucht es bestimmte Voraussetzungen:
- Da ist zum einen die Fähigkeit und auch die Bereitschaft, sich berühren zu lassen. Das gilt auch für uns, die wir in solchen Talententfaltungsräumen als Lehrkräfte tätig sind. Man exponiert sich stark und das geht immer mit einem Risiko einher. Denn mit Blick auf die Jugendlichen gilt: Hat man die Erfahrung gemacht, dass „berührt werden“ „verletzt werden“, „manipuliert werden“ heißt, dann kann das sehr häufig zu einer Blockade im Resonanzraum führen.
- Natürlich gibt es räumliche Voraussetzungen: Ein Betonraum ist in der Regel weniger gut geeignet als ein Naturraum. Weil Natur ein lebendiges, unkontrollierbares Gegenüber ist, wirkt sie stimulierend.
- Es gibt auch zeitliche Voraussetzungen: Wenn ich unter Zeitdruck stehe, lasse ich mich nicht auf ergebnisoffene Bewegungen ein.
- Gleiches gilt für Konkurrenz. Konkurrenz ist ein Resonanzraum-Killer – und vor allem ist auch Angst ein Resonanzraum-Killer. Wir brauchen angstfreie Räume, um uns zu entfalten. Denn ein Resonanzraum bedeutet immer auch, sich verwundbar zu machen: Ich versuche, zu singen oder in einer bereits bestehenden Mannschaft Fußball zu spielen. Der Raum muss daher ein Safe Place sein, in dem ich meine Stimme hörbar machen kann – in dem Bewusstsein, dass ich verletzbar bin. Eine Resonanzbeziehung einzugehen, bedeutet, sich verletzbar zu machen – übrigens natürlich auch für Lehrkräfte.
- Eine wichtige Voraussetzung ist daher wechselseitiges Vertrauen. In meiner langjährigen Tätigkeit als Akademieleiter bei Bildung & Begabung habe ich die Erfahrung gemacht, dass wir uns zum Start der Akademie in einer Entfremdungszone bewegen. Die Jugendlichen kennen sich nicht gegenseitig, sie kennen uns nicht und sie kennen den Raum nicht, kurz: Sie wissen nicht, was auf sie zukommt. Übrigens haben die Akademieteilnehmenden in der Regel zu Beginn eine sehr geringe Selbstwirksamkeitserwartung, weil sie denken, sie seien von lauter Einsteins oder Marie Curies umgeben – nur sie selbst seien ganz normal und durchschnittlich. Was wir den Teilnehmenden daher sagen und auch vorleben, ist Folgendes: Wir kontrollieren das Akademiegeschehen nicht. Ihr habt Zugang zu allen Räumen, auch zu den Laboren, zu den Computern und zu den Musikinstrumenten. Und eigentlich mache ich fast jedes Jahr die Erfahrung, dass bei den Rückmeldebogen gesagt wird: Das Unglaublichste war, dass ihr uns wirklich vertraut habt – aber noch beeindruckender war, dass wir dieses Vertrauen nicht missbraucht haben. Natürlich muss man schauen, wie weit man jeweils mit Vertrauen gehen kann.
- Vertrauen ist also, metaphorisch gesprochen, ein räumliches Moment, das Resonanzbeziehungen ermöglicht. Ähnliches gilt für den Humor. Wenn wir uns in der Sache streiten, uns wechselseitig in die Haare geraten – dann gibt es darunter immer noch so etwas wie einen offenen Resonanzdraht, der dableibt und sich bewegt.
Wie die Schule zum Ermöglichungsraum werden kann
Schule, genau wie eine Akademie, sollte ein Ermöglichungsraum sein. Wenn Schülerinnen und Schüler oder auch Lehrkräfte eine Idee haben, dann gibt es häufig tausend Gründe, warum diese Idee nicht umsetzbar ist: Geld, Zeit, Sicherheit, der Lehrplan. Auf diese Weise legt sich ein lähmender Mehltau über eine Bildungseinrichtung. Ziel sollte es daher sein, dieses Phänomen umzudrehen und zu sagen: „Wir sind eine Ermöglichungsschule – und wenn wir gerade die Voraussetzungen nicht haben, dann schaffen wir sie, dann versuchen wir, es möglich zu machen!“
Bei der Frage, wie Schule ein Resonanzraum werden kann, geht es nicht nur um das Verhältnis zwischen Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern, sondern auch um das Verhältnis der Lehrkräfte untereinander. Für viele ist beispielsweise das Lehrerzimmer eine maximale Entfremdungszone, in der man sich eher aus dem Weg geht, als miteinander ins Gespräch zu kommen. Wenn ich Schulleiter wäre, würde ich versuchen, das Lehrerzimmer zu einer Resonanzzone zu machen, in der man sich wechselseitig zuhören und gemeinsam Dinge auf die Beine stellen kann.
Dasselbe gilt für die Begegnung mit Eltern. Eine Schule sollte sich auch nach außen hin in einem Bewegungsmodus bewegen, Sorgen und Ideen von Eltern ernst nehmen, statt sie abzuwimmeln. Sogar das Verhältnis von Schule zu ihrer Umgebung als Ganzes bietet potenzielle Resonanzfenster – zu der umgebenden Natur, zu der Stadt, zu den Menschen, die drumherum leben und arbeiten. Ja, sogar zu den Geschäften, zur Bäckerei oder dem Döner an der Ecke. Denn auch mit diesen kann man in eine Resonanzbeziehung treten.
Prof. Dr. Hartmut Rosa
Zum 24. Mal war Hartmut Rosa im Sommer 2023 bei einer Deutschen SchülerAkademie als Leiter im Einsatz. Der Soziologe und Politikwissenschaftler lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Renommiert, evaluiert, eine Erfahrung fürs Leben: Die Deutsche SchülerAkademie
Jeden Sommer bringt die Deutsche SchülerAkademie zwei Wochen lang Jugendliche mit unterschiedlichsten Talenten zusammen. Gemeinsam erarbeiten sie spannende Themen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Das Format der SchülerAkademie ist Vorbild für weitere Förderformate bei Bildung & Begabung.